Einfache Sprache, leichte Sprache oder Sprache für alle? Anregungen aus den Niederlanden

Da viele Dienstleistungen und Aktivitäten des täglichen Lebens heutzutage über das Internet abgewickelt werden, können begrenzte digitale Fähigkeiten auch für Menschen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen ein großes Problem darstellen. Die niederländische Regierung hat einen nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung der geringen Lese- und Schreibkompetenz für den Zeitraum 2020-2024 eingeführt (Van Engelshoven, de Jonge, & Knops, 2019).

Menschen mit geringer Lese- und Schreibkompetenz in den Niederlanden

Dieser Plan konzentriert sich zwar auf die Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeiten, aber es wird immer eine große Gruppe von Menschen geben, deren Lese- und Schreibfähigkeiten niedrig sind oder bleiben werden (Sociaal Economische Raad, 2019). Aufgrund all dieser Entwicklungen reicht es nicht aus, nur auf die Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeiten abzuzielen, um die gesellschaftliche Integration und Teilhabe möglichst vieler Menschen zu fördern.

Dies unterstreicht, wie wichtig es für Behörden, Unternehmen und Organisationen des (öffentlichen) Gesundheitswesens ist, ihre Kommunikationsstrategien zu ändern und verständliche Informationen für möglichst viele Menschen bereitzustellen. Bislang werden Informationen in vielen Fällen in einem Format präsentiert, das zu komplex ist und bei dem die Eigenschaften und Fähigkeiten der vorgesehenen Leser nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Mehrere Studien zeigen, dass Regierungsbehörden Texte verwenden, die für viele Adressaten zu schwierig sind. Das niederländische Human Rights College stellte fest, dass 36 Prozent der Menschen mit niedrigem Bildungsniveau die Informationen der Behörden nicht vollständig verstehen oder sich unsicher fühlen. Dies gilt auch für 23 Prozent der Menschen mit einem durchschnittlichen Bildungsniveau und für 5 Prozent der Menschen mit einem hohen Bildungsniveau (College voor de Rechten van de Mens, 2020).

Eine andere Studie über staatliche Informationen für Menschen mit Schuldenproblemen zeigt, dass für 62 Prozent der Leser mit niedrigem Bildungsniveau die verwendete Sprache (zu) schwierig ist und dass diese Leser nicht wissen, wie sie die von den Behörden bereitgestellten Informationen weiterverfolgen können. Viele Behördentexte schrecken die Leser aufgrund ihrer Länge ab und verursachen aufgrund ihrer Unverständlichkeit viel Stress. Infolgedessen wird diesen Menschen nicht geholfen und sie laufen Gefahr, noch größere (finanzielle) Probleme zu bekommen (Pander Maat & Van der Geest, 2021).

Verständlich kommunizieren

Seit einigen Jahren wird in den Niederlanden in staatlichen und privaten Organisationen verstärkt darauf geachtet, verständlicher zu schreiben. Viele Initiativen beschränken sich jedoch hauptsächlich darauf, schwierige Wörter zu vermeiden oder zu ersetzen, Sätze zu verkürzen und einen aktiven Schreibstil zu verwenden. Es gibt zahlreiche Kurse, in denen verständliches Schreiben gelehrt wird, aber sie beruhen keineswegs immer auf fundierten Forschungsergebnissen. Viele dieser Initiativen richten sich nur an diejenigen, die zumindest auf dem niederländischen 2F-Niveau lesen können, das grob mit dem B1-Niveau des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GERS) vergleichbar ist.

Organisationen, die Informationen auf einer 2F (B1)-Ebene bereitstellen, schließen Menschen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen von ihrer Kommunikation aus (Janssen, 2013). Ein weiteres Problem bei der Art und Weise, wie Informationen von (staatlichen) Organisationen zur Verfügung gestellt werden, ist, dass oft wenig darauf geachtet wird, das Verständnis und die Akzeptanz des Materials durch die vorgesehenen Empfänger zu testen.

Wenn die Informationen nicht dem Vorwissen und dem Sprachniveau des Lesers entsprechen, ist es schwierig, ein wirkliches (tiefes) Verständnis zu erreichen (Kintsch & Van Dijk 1978; Van Dijk & Kintsch 1983; Kintsch & Rawson 2005; Kamalski et al. 2005; Frank et al. 2007; Land 2009; Sikkema et al. 2017; Kleijn 2018). Darüber hinaus versorgen Fachkräfte, die mit Menschen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen arbeiten, diese leider oft mit einer viel zu großen Menge an Informationen, zum Beispiel aus medizinischen und juristischen Sicherheitsgründen oder aus finanziellen Gründen (zur Vermeidung von Beschwerde-Prozederen).

Menschen mit einer kleinen Wissensbasis haben Schwierigkeiten, neue oder komplexe Informationen zu verstehen (Kintsch & Van Dijk 1978; Van Dijk & Kintsch 1983; Kintsch & Rawson 2005; Kamalski et al. 2005; Frank et al. 2007; Land 2009; Sikkema et al. 2017; Kleijn 2018). Viele von ihnen haben ein geringeres Verständnis von Wörtern und Grammatik, weniger Wissen über Synonyme für ein Wort, eine geringere Kapazität des Arbeitsgedächtnisses für die Verarbeitung von Informationen, wenig Vorwissen, und vielen von ihnen fehlt die Fähigkeit, Verbindungen zwischen den Informationen, die sie bereits besitzen, und den neuen Informationen, die sie erhalten, leicht zu erkennen.

Außerdem gibt es oft Probleme, Verbindungen zwischen Textfragmenten herzustellen.  Aus diesem Grund reicht es auch nicht aus, schwierige Wörter und Sätze nur in eine gängigere Sprache zu übersetzen, um das Verständnis des Textes zu fördern. Die Bereitstellung von Textverbindungen zwischen Textfragmenten ist ein neuer Ansatz, um Missverständnissen entgegenzuwirken.

Forschung zeigt, dass Menschen mit durchschnittlichen bis guten Lese- und Schreibkenntnissen ebenfalls von einer klaren Kommunikation profitieren (Meppelink, 2016). Die Fähigkeit, diese Informationen zu verstehen, ist für alle Adressaten von größter Bedeutung, nicht nur für Menschen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten. Es würde allen Dienstleistungsnutzern, ob mit oder ohne Lese- und Schreibproblemen, helfen, die (Auswirkungen der) bereitgestellten Informationen leicht zu verstehen. Dies käme auch dem Anbieter der Informationen zugute, da weniger Fragen zur Klärung gestellt werden müssten und die Informationen wahrscheinlich auch befolgt würden.

Was in einem Text einfach und verständlich ist, bestimmt der Leser, nicht der Verfasser eines Textes. Fachleute sind sich nicht immer bewusst, dass sie Jargon und Fachsprache verwenden, oder sie geben zu viele Informationen auf einmal (einschließlich unnötiger Informationen) und gehen fälschlicherweise davon aus, dass Verfahren, die ihnen vertraut sind, auch den vorgesehenen Lesern vertraut sind.

Es ist sehr wichtig, dass sich die Adressaten von den Informationen, die sie erhalten, angesprochen fühlen, den Inhalt verstehen und in der Lage sind, die Informationen weiterzuverfolgen, so dass sie zum Beispiel rechtzeitig und mit den richtigen Unterlagen zu Terminen erscheinen. Auch der Tonfall ist wichtig, denn niemand möchte auf kindische oder herablassende Weise angesprochen werden.

Das Vorwissen, der Informationsbedarf und die Sprachkenntnisse des Lesers beeinflussen, ob er die Informationen versteht und entsprechend handelt. Wichtige Faktoren, die zu berücksichtigen sind, sind die Komplexität des Inhalts, die Verwendung von Bildern, die gewählte Form und der Stil sowie das richtige Timing: Werden die richtigen Informationen dann bereitgestellt, wenn sie wirklich gebraucht werden?

Die Methode Sprache für alle

Um der Notwendigkeit gerecht zu werden, verständliche Informationen für alle, einschließlich (der meisten) Menschen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen, bereitzustellen, wurde in den Niederlanden eine neue Methode, Sprache für alle, eingeführt (Moonen, 2021), wobei die in Abschnitt 1 und 2 besprochenen Erkenntnisse mit einbezogen wurden. Ziel der Methode ist es, Informationen möglichst in einer einzigen Version zu verfassen, die für alle Adressaten verständlich und ansprechend ist, die (soziale) Integration fördert und Segregation verhindert.

Die Anwendung der Methode Sprache für alle geht über die „Neuübersetzung“ von Informationen hinaus und umfasst mehr als die „Erstellung eines Textes auf A1, A2 oder B1-Niveau“, was ohnehin unmöglich ist, da sich diese Klassifizierung auf die muttersprachlichen Lese-/Fremdsprachenkenntnisse und nicht auf die Schwierigkeit des Textes bezieht (Janssen, 2013). Die Methode basiert auf Forschungsergebnissen über (Fehl-)Kommunikation, Lesen, Verstehen, Verständnis und Nutzung von Informationen anhand von Stichproben mit Einbeziehung von beabsichtigten Lesern mit und ohne (sehr) geringen Lese- und Schreibfähigkeiten.

Sprache für alle schließt die Informationslücke für viele Menschen, auch die mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten, da die Methode auf Richtlinien basiert, die Informationen für Leser mit einem Einstiegsniveau ab A1-Niveau des GERS bereitstellen. Aber in seiner am weitesten verbreiteten Form, bekannt als Sprache für alle plus, kann der Schwierigkeitsgrad des Textes zwischen einfacher und leichter Sprache liegen, was mit dem A2-Niveau des GERS vergleichbar ist. Es gibt zusätzlich maßgeschneiderte Versionen von Sprache für alle, die Forschungsergebnisse zur Anwendung von (sehr) leichter Sprache für Menschen mit sehr geringen Lese- und Schreibkenntnissen oder besonderen Bedürfnissen in einem bestimmten Umfeld, z. B. einer Pflegeeinrichtung oder einer Schule für Schüler mit Beeinträchtigungen, anpassen.

Die Methode Sprache für alle bietet Ratschläge zum Schreiben, zur Verwendung von Bildern und zu Tests. Indem die beabsichtigten Leser so früh wie möglich in den Prozess der Informationserstellung einbezogen werden, können die Informationsanbieter den Informationsbedarf dieser Leser so gut wie möglich erfassen und ihr Vorwissen einschätzen. Beabsichtigte Leser auf allen Sprachniveaus sind eingeladen, ein Konzept auf Verständnis und Akzeptanz zu testen.

Ein Textentwurf wird mit verschiedenen Methoden bei diesen Testlesern auf Verständlichkeit und Akzeptanz getestet, zum Beispiel mit einem Lückentest (Kleijn, 2018). Die Resultate der Tests und das Feedback der Testleser sind wichtig. Der Verfasser des Textes muss sie jedoch im Vergleich zu dem bewerten, was bereits aus der wissenschaftlichen Forschung bekannt ist.

Bei der Methode Sprache für alle werden unterstützende Abbildungen (in vielen Formen) nur dann verwendet, wenn sie für das Verständnis des Textes notwendig und hilfreich sind. Es muss sorgfältig geprüft werden, ob ein oder mehrere Abbildungen die Attraktivität des Textes unterstützen. Da sowohl Abbildungen als auch Texte das begrenzte Arbeitsgedächtnis von Menschen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten beanspruchen und Bildmerkmale ablenken können, kann der Einsatz von Abbildungen die Textverständlichkeit sogar verringern. Dies sollte sorgfältig bedacht und in Zusammenarbeit mit den beabsichtigten Lesern getestet werden.

Sprache für alle ist für viele Partner, einschließlich (nicht-)staatlicher Organisationen und Gemeinden, von Interesse. Einer der derzeitigen Partner ist die Stadt Amsterdam, die Sprache für alle für alle wichtigen städtischen Mitteilungen eingeführt hat. Ein weiterer Partner ist die gemeinnützige Organisation Koraal, einer der Gründungssponsoren der Methode, die Dienstleistungen und Bildungseinrichtungen für Menschen mit Behinderungen in den Niederlanden anbietet.

Es gibt Einführungskurse und weiterbildende Kurse in Sprache für alle, und Benutzer können in Intervisionsgruppen weiter diskutieren über Probleme und Lösungen. Über www.taalvoorallemaal.com oder Language for all (taalvoorallemaal.com) kann man die Website besuchen.

Literatur

Algemene Rekenkamer. 2016. Aanpak van laaggeletterdheid. [Approach low literacy]. Den Haag: Algemene Rekenkamer.

College voor de Rechten van de Mens [Human rights College]. 2020. Iedereen op eigen kracht? Nederlanders over zelfredzaamheid en mensenrechten. [Everyone in their own power? Dutch people on self-reliance and human rights]. Utrecht: College voor de Rechten van de Mens.

Fouarge, D., Houtkoop, W. & van der Velden, R. 2011. Laaggeletterdheid in Nederland. [Low literacy in The Netherlands]. ’s-Hertogenbosch: Expertisecentrum Beroepsonderwijs.

Janssen, C. 2013. Taalniveau B1: de nieuwste kleren van de keizer. [Language level B1: the emperor’s newest clothes]. Onze Taal, 82(2), 56-57.

Kamalski, J., Sanders, T.J.M., Lentz, L. & van den Bergh, H. 2005. Hoe kun je het beste meten of een leerling een tekst begrijpt? Een vergelijkend onderzoek naar vier methoden. [What is the best way to measure a pupils text comprehension? A comparative study on four methods]. Levende Talen Tijdschrift, 6(4), p. 3-9.

Kintsch, W. 2018. Revisiting the Construction—Integration Model of Text Comprehension and its Implications for Instruction in Theoretical Models and Processes of Literacy. In: Alvermann, D.E., Unrau, N.J., Sailors, M. & Ruddell, R.B. (Eds.) Theoretical Models and Processes of Literacy. New York: Routledge.

Kintsch, W. & van Dijk, T.A. 1978. Toward a Model of Text Comprehension and Production. Psychological Review, 85(5), 363-394.

Kintsch, W. & Rawson, K.A. 2005. Comprehension. In: Snowling M.J. & Hulme, C. (eds.). Blackwell handbooks of developmental psychology. The science of reading: A handbook. pp. 209–226.

Kleijn, S. 2018. Clozing in on readability. How linguistic features affect and predict text comprehension and on-line processing. Utrecht: Utrecht University.

Land, J. (2009). Zwakke lezers, sterke teksten? Effecten van tekst- en lezerskenmerken op het tekstbegrip en de tekstwaardering van vmbo-leerlingen. [Weak readers, strong texts? Effects of text- and readers characteristics on comprehension and acceptance in secondary school pupils]. Utrecht: Utrecht University.

Meppelink, C.S. 2016. Designing Digital Health Information in a Health Literacy Context. Amsterdam: Amsterdam School of Communication Research (ASCoR), University of Amsterdam.

Moonen, X. (2021). Easy language in the Netherlands. In: Lindholm, C. & Vanhatalo, U. (eds.) Handbook of Easy Languages in Europe. (pp. 345-370). Berlin: Frank & Timme.

Pander Maat, H. & van der Geest, T. 2021. Monitor Begrijpelijke overheidsteksten. [Monitor Understandable governmental texts]. Utrecht: Universiteit Utrecht en Hogeschool Arnhem Nijmegen.

Sikkema, T., Lentz, L. Pander Maat, H. & Jungmann, N. 2017. De schuld van incassodocumenten. [Debt collection documents are to blame]., Tijdschrift voor Taalbeheersing, 39(3), 273-296.

Sociaal Economische Raad. 2019. Samen werken aan taal – Een advies over laaggeletterdheid. [Working together on language – Ad advice about low literacy]. Den Haag: Sociaal Economische Raad.

Van Dijk, T.A. & Kintsch, W. 1983. Strategies of Discourse Comprehension. New York: Academic Press.

Van Engelshoven,  I., de Jonge, H. & Knops, R. 2019. Samen aan de slag voor een vaardig Nederland: vervolgaanpak laaggeletterdheid 2020 – 2024. [Working together for a skilled Netherland: follow-up approach low literacy 2020 – 2024]. Den Haag: Brief van de Minister aan de Tweede Kamer [Letter of Ministers for the Dutch parliament].

11. Mai 2022

Xavier Moonen, Professor an der Universität von Amsterdam

Veröffentlicht von

ruweadmin

Uwe Roth ist Journalist, Dozent für barrierefreie Kommunikation und Texter für die Einfache Sprache. Er arbeitet beim Deutschen Institut für Normung (DIN) an Regelwerken für die Leichte und Einfache Sprache mit. Er ist zudem Mitglied in der Plain Language Association International. Uwe Roth hat Sozialwissenschaften studiert, in Brüssel als Korrespondent gearbeitet und war zehn Jahre Redakteur in einem großen Medienhaus in Stuttgart.

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